Die Geschichte des Selbst beginnt mit Ganzheit
Die Geschichte des Selbst beginnt mit Ganzheit. Wir werden als vereinte Wesen geboren, die in einem Zustand ursprünglicher Vollständigkeit existieren. Doch während wir wachsen und ein Ich-Gefühl entwickeln, zersplittert diese Ganzheit. Diese Reise ist das Ego-Selbst.
Die erste Hälfte des Lebens ist eine Bewegung weg vom Selbst und die zweite Hälfte eine Rückkehr dorthin
Dies ist der Prozess von Trennung und Wiedervereinigung, eine Dynamik, die den gesamten Bogen unseres Lebens prägt.
Das Selbst ist nicht nur das Zentrum, sondern auch der gesamte Umkreis, der sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste umfasst. Es ist das Zentrum dieser Gesamtheit, genau wie das Ego das Zentrum des Bewusstseins ist. Das Selbst ist das Ganze, aber das Ego – unser Gefühl von Individualität – ist nur ein Fragment. (C.G. Jung)
Probleme entstehen, wenn das Ego dominiert und als einzige Quelle unserer Identität fungiert. Dabei ignorieren wir die riesigen, geheimnisvollen Tiefen des Unbewussten. Dies führt zu einer einseitigen Psyche, die zu dem führt, was Young als psychische Dissoziation. Die Aufgabe besteht dann darin, diese Kluft zu überbrücken und die Einheit wiederherzustellen, die wir einst hatten – die ursprüngliche Ganzheit, die in uns schlummert.
Paradoxerweise müssen wir zurückblicken, um vorwärts zu kommen
Ganzheit ist kein Rückfall ins Kindliche, sondern eine Wiederherstellung kindlicher Einheit. Doch diese Wiederherstellung birgt Fallstricke, zum Beispiel den Wunsch, im schützenden Kreis der Mutter zu bleiben. Ein Zustand der Abhängigkeit führt zu Stagnation. Dies ist der Archetyp des Manneskindes. Ein Erwachsener, der es nicht geschafft hat, wahre Reife zu entwickeln, erfordert die Integration des archetypischen inneren Kindes bei gleichzeitiger Übernahme von Verantwortung. Das Kind ist aber die ultimative Metamorphose.
Das Kind ist Unschuld und Vergesslichkeit. Ein Neuanfang, ein Spiel, ein sich selbst antreibendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja. (Nietzsche)
Die Metapher des Kindes stellt eine Rückkehr zur wesentlichen Kreativität und zum Spiel des Lebens dar. Das Kind bedeutet eine Pause von der Last des Belastungen der Vergangenheit und gesellschaftliche Erwartungen – eine Wiedergeburt in Spontaneität und Fantasie.
Diese Transformation ist jedoch alles andere als einfach
Als Erwachsene unterdrücken wir die Qualitäten des Spiels und des Staunens zugunsten von Ernsthaftigkeit und Verantwortung. Unser inneres Kind wird unter den Rollen, die wir annehmen, den Erwartungen, die wir zu erfüllen versuchen, und den Masken, die wir tragen, um uns im sozialen Leben zurechtzufinden, begraben. Doch dieses Kind bleibt in uns und sehnt sich nach Ausdruck in Abwesenheit von Integration. Wir sehnen uns vielleicht unbewusst nach diesem Seinszustand.
Wir sehen diese Sehnsucht in unserer Nostalgie nach der Vergangenheit oder unserer Anziehung zu Geschichten und Mythen, die unser Gefühl des Staunens neu entfachen. Kinder leben in einer Welt des Animismus, einem Zustand, in dem alles voller Bedeutung ist. Objekte werden zu Gefährten in ihren Spielen, die von Geschichten und Persönlichkeiten durchdrungen sind. Diese kreative Projektion ist nicht blosser Eskapismus, sondern ein wesentlicher Teil ihrer Verbindung zur Welt. Die Schuld, die wir dem Spiel der Vorstellungskraft schulden, ist unermesslich. Sich wieder mit dem inneren Kind zu verbinden bedeutet, diese fantasievolle Vitalität wiederzuentdecken.
Es geht nicht darum, in die Kindlichkeit zurückzufallen, sondern vielmehr die Fähigkeit zu Kreativität, Freude und Staunen in unserem Erwachsenenleben anzunehmen.
Indem wir diesen Teil von uns integrieren, öffnen wir die Tür zu einem erhöhten Bewusstseinszustand, einem Zustand, der es uns ermöglicht, uns tiefer mit den Komplexitäten und Mysterien des Lebens auseinanderzusetzen.
Der Prozess der Desintegration und Reintegration als der Essenz der menschlichen Entwicklung
Wir werden ganz geboren. Wir brechen auseinander und müssen uns wieder zusammensetzen. Diese Reise ist der Weg zur Selbstverwirklichung, auf dem wir nicht nur unsere ursprüngliche Ganzheit wiederentdecken, sondern sie auch in etwas Tiefergehendes verwandeln. Diese Transformation erfolgt nicht unmittelbar, sondern erfordert Anstrengung, Geduld und innere Arbeit.
Auch die alte Weisheit betont die Bedeutung von Disziplin in diesem Prozess. Im Geheimnis der Goldenen Blüte, einem traditionellen Text, wird es erst nach 100 Tagen konsequenter Arbeit geschrieben. Erst dann ist das Licht echt. Erst dann kann man beginnen, mit dem spirituellen Feuer zu arbeiten. Das Licht stellt in diesem Zusammenhang einen ausgeprägten Bewusstseinszustand dar, der es uns ermöglicht, die dunkleren, unbewussten Teile unseres Selbst zu erleuchten.
Es ist höchste Zeit zu erkennen, dass es sinnlos ist, das Licht zu preisen und zu predigen, wenn niemand es sehen kann.
Es ist viel notwendiger, den Menschen die Kunst des Sehens beizubringen.
Die Reise zur Ganzheit ist nicht linear
Es ist eine Umrundung – eine spiralförmige Reise um das Selbst. Jede Erfahrung, jede Emotion und jede Herausforderung, der wir uns stellen, ist ein Schritt näher ans Zentrum. Wir können Trost in dieser Erkenntnis finden.
Ich begann zu verstehen, dass das Ziel der psychischen Entwicklung das Selbst ist. Es gibt keine lineare Evolution, sondern nur eine Umrundung des Selbst. Diese Einsicht gab mir Stabilität und allmählich kehrte mein innerer Frieden zurück. Ich fand Erleichterung vom Chaos, der Angst, dem Leiden und dem unerbittlichen Streben nach äusseren Zielen, Geld, Ruhm und Macht. Gehören zum Rand des Rades. Das Zentrum bietet Stabilität, Frieden und Transzendenz. (C.G. Jung)
Christus - Das Symbol des Selbst
In der mittelalterlichen Symbolik wurde dieses Konzept oft illustriert. Veranschaulicht durch das Bild eines Rades. Der Rand ist ein König, der endlos durch Zustände von Macht und Verlust kreist. Ich regiere. Ich habe geherrscht. Ich habe mein Königreich verloren und ich werde regieren. Im Zentrum des Rades steht Christus, ein Symbol des Selbst. Die Botschaft ist klar: Leben am Rand bedeutet, der Unvorhersehbarkeit des Lebens ausgeliefert zu sein. Im Mittelpunkt steht die Suche nach wahrer Freiheit. Die alten Griechen hatten einen Begriff für den Zustand des inneren Gleichgewichts: Apatha. Es handelt sich nicht um Apathie, sondern um einen tiefen Zustand der Ruhe, in dem man von äusseren Ereignissen ungestört bleibt.
Auch die Stoiker schätzten diese ideale Lehre. Sie lehrte die Dichotomie der Kontrolle, sich auf das zu konzentrieren, was in der eigenen Macht liegt, und loszulassen, was nicht ist. Indem wir die Ereignisse so betrachten, wie sie sind, und nicht durch die Linse unserer Wünsche oder Ängste, können wir inmitten der Turbulenzen des Lebens ein gewisses Mass an Frieden finden. Doch wie alle Zustände der Harmonie ist Apathie vorübergehend. Sie ist kein dauerhafter Zustand, sondern eine flüchtige Harmonie.
Ein Moment, in dem sich das Ego mit dem Selbst in Einklang bringt. Diese Ausrichtung nährt die Seele und bietet einen Einblick in das, was es bedeutet, ganz zu sein.
Diejenigen, die diese Ausrichtung nicht erreichen, bleiben am Rande des Rades gefangen und in Zyklen von Angst und Leid gefangen.
