Mystik & Thomasevangelium – Nr. 102 – Das Innere Christentum
Der Vers - Das Innere Christentum
Jesus sagte: „Verdammt die Pharisäer! Sie gleichen einem Hund, der im Rindertrog liegt: er frisst nicht, noch lässt er die Rinder fressen.“
Kommentar
Der erste Schritt auf dem Weg zum Licht hat der getan, der der Finsternis der Unerwachtheit inne ward. Denn mit dem Bewusstwerden der Schatten - die von den Unerwachten für Licht gehalten werden - erwacht in seiner Seele die brennende Sehnsucht nach Erleuchtung, nach der Wirklichkeit, zu der er den Zugang in sich findet.
Mit dem zweiten Schritt in die Helle des Innern wird ihm der Unterschied bewusst zwischen dem inneren Christentum und jenem äusseren Christentum, das den Blick auf den historischen Jesus richtet und nicht gelten lassen will, dass er nicht äussere Anbeter und Nachläufer wollte, sondern den inneren Weg zur Selbst-Besinnung, Wiedergeburt und Gott-Erkenntnis für jeden sicht- und beschreitbar machen wollte. Denn das äussere Christentum züchtet leicht Pharisäer, die den Weg zum Licht, zum Christusstum, nicht sehen und zudem oft noch die Wahrheitsucher hindern, diesen Weg zu gehen.
Wie der Hund auf dem Rindertrog auf einer Nahrung liegt, die ihm unbekömmlich ist, durch sein Verhalten aber die Rinder, die ihren bedürfen, zum Hungern zwingt, so führt das Verhalten der seelisch unerwachten äusserlichen oder Namens-Christen dazu, dass sie die Erwachenwollenden oder im Erwachen Stehenden an der Stillung ihres Wahrheitsverlangens hindern, obwohl sie selber infolge mangelnder innerer Wachheit und Reife unvermögend sind, mit der geistigen Nahrung, die sie den anderen verweigern oder verbieten möchten, etwas anzufangen.
Es ist gut, sich den Unterschied zwischen äusserem und innerem Christentum bewusst zu machen:
Das eine erklärt sich als allein massgebenden Wächter der Wahrheit, während das andere zum Streben nach der Wahrheit aufruft, die jeder nur so weit hat, als er sie lebt.
Das eine stellt das Trennende heraus, möchte, selbstgerecht, alle Welt bekehren und wendet sich unduldsam gegen jeden Andersglauben, während das andere das Gemeinsame und Einende betont, zur Selbstbesinnung, Nächsten- und Gottesliebe leitet und dazu, dass auf dem Wege zum Licht einer des anderen Förderer und Helfer sei und duldsam jede vom Gewissen bejahte Erkenntnis achtet.
Das äussere Christentum
Das äussere Christentum stellt die Lehre obenan, streitet um Worte, Ausdeutungen und Meinungen und fördert Fanatismus und Absonderung, während das innere Christentum das Leben über alles stellt, dem inneren Wort folgt und zu rechtem Denken und Tun führt.
Das eine stellt die Sündhaftigkeit und Schwäche des Menschen in den Vordergrund und erfüllt sein Gemüt mit Schuld und Unwertgefühlen und mit den der Angst vor Gottesrache und Weltgericht, während das andere dem Menschen bewusst macht, dass er seinem Wesen nach gut und licht, weil göttlich ist, das Christus und das Reich Gottes in ihm ist und dass alles Lebendige auf dem Wege unendlicher Höherentfaltung und Gottselbstoffenbarung ist.
So richtet das eine den Blick des Menschen nach aussen und hält ihn im Zustand der Unerwachtheit, während das andere nach innen weist und zu stufenweisem Selbst- und Wirklichkeitserwachen führt.