Mystik & Thomasevangelium – Nr. 107 – Wiedervereinigung

Der Vers - Wiedervereinigung

Jesus sagte: „Das Königreich gleicht einem Hirten, der hundert Schafe besass. Eines, das das Grösste war, verirrte sich. Er liess die neunundneunzig allein und suchte das eine, bis er es gefunden hatte. Nachdem er so viel Mühe damit hatte, sagte er zu dem Schaf: ‚Ich liebe dich mehr als die neunundneunzig.’

Kommentar

Mit diesem Spruch will Jesus und wie durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn bewusst machen, warum die ganze Liebe der Gottheit dem Menschenwesen gehört, das sich vor aller Zeit aus  der Einheit des göttlichen Lichtreiches löste, mit der Schöpfung ins Eigensein und in die Zweiheit hinaustrat und sich seitdem, von der heimlichen Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit und Gottunmittelbarkeit getrieben und von der göttlichen Liebe unmerklich lichtwärts gezogen, auf dem Heimwege befindet, dessen aber nur in den seltenen Augenblicken inneren Wachseins bewusst wird.

In diesen Augenblicken kosmischen Erwachens spürt der Mensch, dass er, der Gottsucher, gleichermassen ein von Gott Gesuchter ist, und dass das Reich Gottes mit seiner ganzen Fülle, Macht und Vollkommenheit auf ihn als den berufenen Erben wartet.

Der Mensch, mag er als Einzelner auch noch so unvollkommen, unzureichend, schwach und verworfen erscheinen, ist ein Königssohn, ohne es zu wissen. Und erst, wenn er, der verlorene Eine, ins Lichtreich der Gottheit heimgefunden hat und sein Erbe antritt, ist die Freude vollkommen.

Ja, es herrscht mehr Freude über ihn als über die in der ursprünglichen Einheit Verbliebenen; denn mit ihm ist die Vollkommenheit - symbolisiert durch die Zahl 100 - auf einer höheren Ebene wiederhergestellt, das Einssein mit dem Einen vollendet verwirklicht. Auf den Weg zu dieser Wiedervereinigung weist Christus noch einmal im nächsten und im letzten Spruch.