Mystik & Thomasevangelium – Nr. 68 – Ständige Selbsterprobung

Der Vers - Ständige Selbsterprobung

Jesus sagte: „Lob sei Euch gewiss, wenn man Euch hassen und verfolgen sollte; aber kein Ort gefunden wird, an dem man Euch verfolgen könnte.“

Kommentar

Es wäre aber falsch zu denken, dass Gott die Menschen versucht:

Zu denen, welche meinen, das es in der Schrift heisse, Gott sei es, der versucht: Der Böse ist es, der versucht.

Doch ist auch dieser Böse kein Gegen-Gott, sondern nur der Schatten Gottes, der als Frucht und Folge der geistigen Unerwachtheit und Nichterkenntnis, Ich-Verhaftung und Selbst-Verfinsterung in uns steckt, uns immer wieder erdwärts lockend, zur äusseren Welt.

So werden wir letztlich wiederum auf uns selbst zurückgewiesen. Auf unser göttliches Selbst als den Quell des inneren Lichts, der in der Schule des Lebens, die wir alle durchschreiten, dann in uns aufbricht, wenn wir auf dem Wege ständiger Selbstprüfung und -erprobung allmählich die höchste irdische Reifestufe erlangt haben.

Einerlei, auf welcher Reifestufe wir stehen, das Leben prüft uns immer dort, wo wir am schwächsten sind, damit wir lernen, die Festung der Seele allseitig auszubauen und uns gegen Widrigkeiten und Lockungen so mit Gelassenheit zu wappnen, dass wir sie lächelnd bestehen, ohne den Blick vom Ewigen fortzuwenden.

Wer so lebt, lebt gefahrlos. Gefahr liegt weder im Besitz noch im Mangel, sondern im jenem Verlangen nach und Besessen sein von vergänglichen Dingen und Bindungen, die uns blind machen für das Wesentliche und die Wirklichkeit hinter dem Schein.

Der Arme

Er, der nach äusseren Reichsein giert, ist dem Himmel ferner als ein Reicher, der allen Besitz als Lehen wertet und sich ohne ihn genau so geborgen und überlegen fühlt wie mit ihm. Nicht der Besitz entscheidet, sondern das Herz: wohin es sich wendet, dort ist sein Halt. Hängt es an äusseren Reichtum, ist es ohne Halt - und so sind jene ohne Halt, die andere verfolgen und ihnen ihren Besitz nehmen. Sie finden auf dieser Erde keinen Platz, der ihnen und ihrem Besitz Sicherheit und Dauer verbürgt.

Wurzelt das Herz hingegen im inneren Reich, dann kann nichts Geringeres es halten und seinen Aufflug hemmen, und wäre es auch der Reichtum des ganzen Universums. Ein solches Herz sorgt und giert nicht, jagt nicht und irrt nicht. In jeder Lage bleibt es auf das Wesentliche gerichtet, weil es Gott in sich weiss.

Der Weise

Er lebt, als wäre er der Welt erstorben und lebe nicht. Er besitzt, als besitze er nicht. Er wirkt, als wirke er nicht. Gott wirkt durch ihn. Sein Leben ist Geben - und wenn mit der inneren die äussere Fülle zunimmt, ist es ihm Anruf und Berufung, noch mehr zu geben, noch mehr Diener aller zu sein, die Gott ihm sendet, weil sie seiner bedürfen. Damit berühren wir die tiefere Bedeutung der Forderung Christi nach Weltenthaltung und Wiedergeburt.

Wer der Welt starb und nach dem Durchschreiten der Todesspanne erneut ins leibliche Dasein wiederkehrt, beginnt als Kind. Und so oft er auch Kind ward; es war und ist immer wieder einmalig neu, Quell schöneren Werdens, tieferen Erwachens, höherer Einweihung und lebendigeren Reifens.

Wer vor dem Sterben stirbt und nach dem Durchschreiten das mystischen Todes wiedergeboren wird, wird gleichermassen aufs neue zum Kinde, doch in einem höheren Sinne. Er erwacht als ein seiner selbst bewusstes Kind Gottes. Dieses Erwachen ist wesentlicher und das eigentliche Hochziel der Lebensschule. Es ist der Beginn der kosmischen Reife.