Mystik & Thomasevangelium – Nr. 98 – Tor des Lebens

Der Vers - Tor des Lebens

Jesus sagte: „Des Vaters Königreich gleicht einem Mann, der einen Mächtigen töten wollte. Er zog das Schwert in seinem Haus und durchstach die Mauer, um herauszufinden, ob seine Hand stark genug ist. Dann tötete er den Mächtigen.“

Kommentar

Der "Mann, der einen Mächtigen töten will", ist der Mensch, der den Weg nach innen geht. Das Schwert, das er daheim, in der Stille seines Kämmerleins, zieht und "in die Wand stösst" gegen den Widerstand der stumpfen Welt erprobt, ist die Lichtwaffe der Meditation, von deren Handhabung bis zur Meisterschaft handelt.

Die Hand ist das Symbol rechten Handelns, das immer von neuem geübt werden muss, und zwar nach innen - als Einsenkung des inneren Menschen in den innersten - wie nach aussen - in der Gewinnung wachsender Weltüberlegenheit -, bis der mit der Innenwelt und der inneren Kraft Verbundene so stark geworden ist, dass er "den Mächtigen" - die Ich- und Weltgebundenheit und Erdenschlafumfangenheit - zu töten vermag.

Diese Tötung meint den Gipfel der Selbstverwirklichung, den mystischen Tod, das Entwerden des ich in der Hingabe an das Selbst, die Überwindung der Weltverhaftung. Der, der die Welt erkannt hat, einen Leichnam gefunden hat - denn Erkenntnis bedeutet zugleich Tötung und Überwindung -, der auf das Rettende hinweist, den Quell der Innenkraft: Christus in uns.

Zugleich knüpft dieser Spruch an zwei andere esoterische Herrenworte an, deren eines in den Pseudo-Clementinen zitiert wird und deren zweites Pseudo-Cyprian wiedergibt:

Ich bin das Tor des Lebens. Wer durch mich eingeht, geht in das Leben ein. Ihr seht mich in euch, wie ihr euch erblickt im Spiegel.

Im Grunde handelt es sich hier um einen Spruch, und was er besagt, ist dieses. Wer in den Wirren der Welt eine Wegweisung wünscht, die ihn zu einem neuen Leben aus der Kraft und Fülle des Ewigen geleitet, findet es in diesem Wort, mit dem Christus den Sucher auf sich selbst verweist, sein göttliches Selbst, dessen er in der Einwärtswendung innewird, wie er im Blick nach aussen sich selbst im Spiegel wahrnimmt.

Was die Vielen Leben nennen, ist bloss Da-Sein. Ihre Persönlichkeit bläht sich mächtig auf - sie ist der "Mächtige" dieses Spruches. Sie ist wach und immer bereit, ihre Rechte zu wahren, während ihr Geistwesen, das durch die Maske der Persönlichkeit hindurch-tönen und -wirken sollte, im Halbschlaf dahindämmert.

Die Wenigen hingegen, die in beharrlicher Selbstantwortung der Kardinalfrage: "Wer bin ich?" Stufe um Stufe zu sich selbst erwachten, sind nicht bloss da, sondern sie leben. Sie haben zum Ich-Bin gefunden, in ihnen ist Christus auferstanden, und in der Einswerdung mit ihm hat sich ihnen das Tor des Lebens aufgetan.